Einen wunderschönen Bericht über Umbrien hat Dirk Schümer 2003 im Merian-Heft „Umbrien und die Marken" geschrieben:

Umbrien: Das ideale Italien

Umbrien und die Marken sind nicht so berühmt wie die Toskana, doch von noch größerem Zauber. Sie haben die Patina, die alle Welt in Italien sucht.

Umbrien und die Marken beginnen gleich hinter der Toskana und sehen zunächst auch ganz ähnlich aus: Hügel mit Olivenhainen, ummauerte Städtchen voller Palazzi, Kirchtürme und malerischer Plätze; Weinberge, gewundene Straßen durch harmlose Flusstäler, Ausblicke auf Silhouetten von stilsicher aufgereihten Zypressen und Pinien. Doch die Vorstellung von einem drallen Fortsatz schräg hinter der Toskana trügt bereits beim zweiten Blick: Die Berge ziehen sich viel rauer in die Höhenlagen zum Apennin; abseits der Adriaküste und außerhalb der verstädterten Ebene zwischen Perugia und Spoleto wird die Besiedlung dünn; im Herbst färbt sich das Land baum- und erdfarben braun, hüllt sich in Umbra und verströmt eine ganz untoskanische Melancholie und Verlassenheit.

Die Landschaft wirkt dunkel abgetönt wie vom Malerpinsel. Sogar an einem strahlend brennenden Sommertag ist das Land trutzig, in sich selbst versunken und spätestens hinter der nächsten Hügelkette zu Ende, eine immer merkwürdigere Kreuzung von Schwarzwald und innerem Sizilien.

Gerade wegen all dieser Beschränkungen, die nebenbei verhinderten, dass die südlichen Regionen Mittelitaliens zum weltweiten Markenzeichen wurden, sehen die Italiener in ihren überschaubaren Kernlandschaften inzwischen den Inbegriff von Schönheit und Bewohnbarkeit. Hier, und nicht mehr in den immer dichter bebauten, inzwischen stellenweise stark industrialisierten Gegenden am Arno und im Chianti, und schon gar nicht im architektonischen Wildwuchs des tiefen Südens, hat sich der Charme der historisierenden Modernität, der stilsicheren Patina erhalten, welche die ganze Welt in Italien sucht.

Einen guten heimischen Wein auf der Terrasse einer Trattoria oder eines Landhauses trinken, den Blick dabei über bewaldete Hügelketten schweifen lassen, die wohlgenährten Honigbienen - und nicht die Mücken des Tieflandes - summen hören und sich dabei vom Einkaufsbummel in den gut sortierten Geschäften eines dezent restaurierten Mittelalterstädtchens erholen - das geht in den überschaubaren Landschaften zwischen Perugia und Orvieto, zwischen Urbino und Ascoli Piceno viel besser als vor den Toren von Florenz oder gar Rom.

Als der toskanische Komiker Roberto Benigni im Jahre 2002 seinen "Pinocchio"-Welterfolg drehte, immerhin nach dem Kinderbuch des überzeugten Toskaners Carlo Collodi, da musste der Lokalpatriot mit seiner belebten Marionette in die umbrische Provinz ausweichen, weil es derart märchenhaft unberührte Landschaften vor seiner Haustür nicht mehr gab. Die Toskana für ein Publikum in aller Welt, so verriet das Kleingedruckte im Abspann, war eigentlich tiefstes Umbrien.

Es ist wohl das Bewusstsein, im abgelegeneren, besseren, menschlicheren Winkel heimisch zu werden, der manch prominente deutsche Kulturschaffende und Italienliebhaber wie Peter Stein, Marius Müller- Westernhagen oder Jürgen Flimm (von Italienern wie Umberto Eco ganz zu schweigen) ein Landhaus in Umbrien oder in den Marken erwerben ließ. Ist die Toskanafraktion also recht eigentlich eine verkappte Umbrienpartei?

Als Anhängsel der Weltmarke hinter ihrer Nordgrenze taugen Umbrien und Marken also nicht, dazu sind diese Landschaften zu eigenständig und zu erhaben. Das lehrt schon ein Blick auf die merkwürdig vielen unbeugsamen Fundamentalisten, die sie hervorbrachten: etwa den heiligen Benedikt, den Mönchsvater des Abendlands aus Norcia, und den heiligen Franziskus. Die Kontraste von wilder Landschaft und sanfter Urbanität, Ackerbau und Erdbeben haben diese mal schroffen, mal milden Kulturstifter sehr deutlich geprägt.

Ländlich stur und zugleich weltgewandt sind die Leute hier auch heute noch. Das mag daran liegen, dass Umbrien und die Marken über Jahrhunderte als Außenposten der - gar nicht einmal so strengen - Macht des Papstes dienten und in ihren vielen stolzen Siedlungen niemals die regionale Identität des Herzogtums Toskana erwarben. Man blieb, schnell unterworfen und bald wieder vergessen, immer man selbst - bis zum nächsten Kirchturm, vielleicht sogar bis zur Stadtmauer. Dahinter aber begann die Fremde.

Über den Tiber schifften die fleißigen Umbrer schon vor 2000 Jahren die Lebensmittel herunter in die Millionenmetropole Rom und hatten damit direkten Anschluss an die Welthauptstadt, ohne jedoch später zusammen mit ihr unterzugehen. Durch die Täler zogen die Stämme der Völkerwanderung, im rührend unbeholfenen Nachbau-Tempel an der Quelle des Clitunno ebenso noch abzulesen wie an den markiglangobardischen Reliefs der herrlich abgelegenen Hotel-Abtei San Pietro in Valle, östlich von Terni.

Immer herrschte hier die Vielfalt einer Grenz- und Durchgangsregion. Im Assisi des Mittelalters existierte eine internationale Händlerschaft für Zobelpelze quasi unter einem Dach mit radikalen Armutspredigern in zerrissenen Kutten, und schließlich passten sich beide Milieus zugunsten von Seelenheil wie Geschäft einander an.

Perugia machte mit Stadtpalazzi, Brunnen und Campanili dem gewaltigen Florenz der Renaissance Konkurrenz. Und Adlernestfestungen wie Spello, Trevi, Todi können mit den schönsten Ortsbildern Italiens locker mithalten, trotz der Erdbeben, die hier am Riss zwischen zwei tektonischen Platten immer wieder alles wackeln und die Menschen bescheiden werden lassen.

Was die Landschaften Umbriens im Seelenatlas eines Europäers bedeuten können

Bis heute ist der skeptische Opportunismus bei den Leuten und ihrem Land spürbar: Die wenig beachtete Region hat - man schaue auf die gelungenen Ortsrestaurierungen - satt am italienischen Wirtschaftswunder mitverdienen können, ohne jedoch den Preis der Verwüstung wie im Veneto, wie in der Emilia zu zahlen. Im Windschatten der Historie, im Durchzugsgebiet der Eroberer und der Touristen lebt sich's eben gut und doch gemütlich.

Was aber eine Reise - am besten nicht nur eine schnelle Durchreise - in Umbrien so beglückend macht, ist die Koexistenz all dieser historischen Ablagerungen, die sich mit wachen Augen im ganzen Land finden lassen. Die edle Kaschmirspinnerei vor den Toren von Perugia, die dortige Universität mit ihren Sprachstudenten, die frommen Globalpilger aus dem Klimabus in Assisi oder das moderne Kulturfestival in Spoleto haben den Blick auf die reiche Historie eben nicht verbaut, sondern fügen sich harmonisch ein in diese wahre Ideallandschaft, zehren bewusst von ihren Schätzen. Vielleicht ist es nicht so sehr Misswirtschaft, sondern Geruhsamkeit, die in Gualdo Tadino und Umbertide den Wiederaufbau nach dem schweren Erdbeben so lange dauern ließ. Man hat eben Zeit in Umbrien, manchmal fast zu viel.

Im Sommer kann man sich für wenig Geld mit Sack und Pack und Familie in einem Bauernhof in den Hügeln von Bevagna oder im märkischen Montefeltro einquartieren, kann stundenlang im Schatten dösen und zufrieden auf die Olivenhaine blicken, die im Herbst fast von allein ein herrlich spritziges, beinahe herbes Öl bescheren, das dann in kühlen Tonfässern im Keller lagert. Im Dunst der Ferne liegen die Städtchen Urbino, Spello, Montefalco, Trevi wie Perlen auf einer Krone, vielleicht auf der eigenen, aufgereiht. Abends glimmen zahllose verwaschene Lichter auf, und man darf auch als Hyperboreer mit Fug Anteil haben an der amphitheatralischen Schönheit des Landes.

Schon Goethe, der die mittelalterlichen Folterszenen der Märtyrer in den Kirchen verabscheute, stieg in den Bergen erfrischt herum und suchte - statt nach Kunstgenuss - lieber nach Mineralien. Der Blick, den man an klaren Tagen durch das zerklüftete Neratal über Siedlungen für Schwindelfreie und bunte Laubwälder schweifen lässt, ist so farbenintensiv und sonnensatt, dass er für die Kälteperiode im Norden als wärmende Erinnerung monatelang reichen kann. Denn auch einige von Italiens schönsten Buchten sind Teil dieser träumenden Landschaft. Am Monte Conero zeigt das Wasser das transparente Blau der Ägäis. Die Strände an diesem mit Pinien und Macchia bestandenen Kreidefelsen lassen sich oft nur zu Fuß erreichen, sind also nicht einmal in der Hauptsaison überfüllt.

Selbst im Herbst und Winter zeigt sich ein Italien, das es in der Ganzjahressaison von Venedig, Rom, Florenz so nicht mehr gibt. Perugia im kalten Fallwind vom Apennin ist eine zauberisch stehen gebliebene Studentenmetropole. Die in Bücher versunkenen Mädchen im Wollpullover, die dann im Caffè Sandri auf dem Corso ihre dicke, heiße Schokolade Löffel schlürfen, dazu die schüchtern flirtenden Italiener in ihren abgesteppten Winteruniformen, wirken wie aus einem romantischen Film, so fern scheint in den etruskischen Mauern die harte Realität von Markt und Karriere, Prüfung und Jobsuche.

Assisi ist gerade im kalten Regen der richtige Ort, um sich endlich einmal ohne große Störungen in die gewaltigsten Freskenzyklen der mittelalterlichen Malerei zu versenken. Nie schmeckt ein Cappuccino besser als danach, staunenswert durchgefroren und bis in die hintersten Winkel der Pupille erfüllt von der Schönheitssehnsucht jener Maler, die heute schon 700 Jahre tot und begraben und immer noch lebendig sind.

Nach solchen Aufenthalten wissen wir, was diese Landschaften im Seelenatlas eines Europäers bedeuten können: die Bilder eines idealen Italiens, das wir seit Goethe und seinen Klassikerkollegen Gott sei Dank nicht nur mit der Seele besuchen können.

Bericht von Dirk Schümer